Bis 1981 wurden im Kanton Zürich Kinder und Jugendliche zur Nacherziehung in Heime eingewiesen und weggesperrt.

Im Hof zum Kellerloch in Ringwil richtete der Kanton Zürich 1881 eine staatliche Korrektionsanstalt ein, in der Knaben interniert und nacherzogen wurden. (Bild: Schweizerisches Sozialachiv)

Bis 1981 wurden im Kanton Zürich Kinder und Jugendliche in Heime weggesperrt, Frauen und Männer kamen zur «Nacherziehung» in Arbeitsanstalten. Im Zug der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Zürcher Geschichte hat der Regierungsrat 2016 Mittel für Forschung über die damaligen Vorgänge bewilligt. Jetzt liegen die Ergebnisse vor. Fachleute haben sie am 30. November im Beisein von Regierungsrätin Jacqueline Fehr präsentiert.

Bis 1981 wurden im Kanton Zürich Kinder und Jugendliche bei Pflegefamilien platziert und als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Frauen und Männer wurden gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen. «Liederliche» und «arbeitsscheue» Menschen wurden entmündigt und sterilisiert. Von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen waren im Kanton Zürich bis 1981 zahllose Kinder, Jugendliche und Erwachsene betroffen.

Im Oktober 2016 hat der Regierungsrat 500'000 Franken für ein Forschungsprojekt bewilligt, das zusätzlich zu den laufenden Forschungen auf nationaler Ebene und in anderen Kantonen die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Kanton Zürich untersucht. Nach rund zweijähriger Arbeit liegen die Ergebnisse jetzt in Form einer Buchpublikation vor. Regierungsrätin Jacqueline Fehr, Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern, und Beat Gnädinger, Staatsarchivar, haben die Ergebnisse am 30. November in Winterthur öffentlich präsentiert. Gemeinsam mit Betroffenen und einer Wissenschaftlerin haben sie die Erkenntnisse an einer Podiumsdiskussion erörtert.

Die vier Buchbeiträge beleuchten unterschiedliche Aspekte der Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen anhand von Zürcher Quellen.

Birgit Christensen zeichnet in ihrem Artikel über die Gesetzgebung im Kanton Zürich die komplizierten Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Erlassen auf kantonaler und nationaler Ebene in einem Zeitraum von über hundert Jahren nach. Die Versorgungsgesetze waren ein wichtiges Mittel der Behörden, um Menschen, die den gesellschaftlichen Moralvorstellungen und Verhaltensnormen nicht entsprachen, zu disziplinieren: Sie konnten für mehrere Jahre interniert werden, ohne dass sie je straffällig und gerichtlich verurteilt worden wären. Den administrativ Versorgten war es lange kaum möglich, sich gegen solche Massnahmen zu wehren. Die Autorin verweist damit auf die Handlungsspielräume, die die Verantwortlichen im Umgang mit Betroffenen hatten. Sie waren aus grundrechtlicher Sicht viel zu gross.

Sabine Jenzer und Thomas Meier nehmen in ihrem Beitrag die vielfältige Anstaltslandschaft im Kanton Zürich in den Blick. Das Spektrum der untersuchten Heime reicht vom Armenhaus, dem Altersheim und den Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendliche über die Anstalten des Massnahmenvollzugs und die Drogenentzugsanstalten bis zu psychiatrischen Einrichtungen, Beobachtungsheimen und Heimen für Behinderte. Die Darstellung macht deutlich, dass die Anstaltslandschaft im Kanton Zürich dauernd in Bewegung war. Insgesamt dehnte sich der Heimsektor im untersuchten Zeitraum aus, und es fand eine Ausdifferenzierung der Anstaltstypen statt. Anhand von drei Einzelschicksalen machen Jenzer und Meier sichtbar, dass Betroffene von fürsorgerischen Massnahmen nicht selten von einer Anstalt in die nächste kamen.

Alix Heiniger, Matthieu Leimgruber und Sandro Buchli beleuchten in ihrem Beitrag die ökonomischen Aspekte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die in der Forschung bislang noch wenig untersucht wurden. An der Internierung von Menschen in einer Anstalt war eine ganze Reihe von Akteuren beteiligt. Sie untersuchen aber nicht nur die finanziellen Aspekte auf der Seite der Versorger und der Anstalten, sondern gehen auch der Frage nach, welche Auswirkungen eine Versorgung auf die ökonomische Realität der Betroffenen hatte. Bereits die administrative Versorgung selbst war oft eine grosse finanzielle Last, da die Betroffenen die Kosten der Versorgung selber bezahlen oder der Gemeinde zurückerstatten mussten. Für Menschen, die bereits als Kind oder als Jugendliche fremdplatziert oder in einem Heim versorgt wurden, bedeutete dies oft ein ganzes Leben in Armut.

Tanja Rietmann, Urs Germann und Flurin Condrau schliesslich gehen der Frage nach, wie, in welchem Ausmass und an welchen Personengruppen am Burghölzli beziehungsweise an der Kantonalen Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Psychopharmaka getestet wurden. Dass in der PUK wie in anderen Psychiatrischen Kliniken in der Schweiz zwischen 1950 und 1980 Ärzte neue und in ihrer Wirkungsweise noch ungeprüfte Präparate ohne Wissen der Patientinnen und Patienten verabreichten, überrascht nicht. Die Untersuchung zeigt aber, dass bestimmte Patientengruppen, etwa Heimkinder und bevormundete Personen, nicht gezielt oder besonders häufig in die Medikamentenforschung einbezogen wurden. Jedoch halten die Autoren auch fest, dass es bis in die 1980er-Jahre kaum oder sogar keine Regulierungen der Medikamentenforschung gab. Erst im Gefolge des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 wurden die Rechte der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung gegenüber der Ärzteschaft langsam gestärkt.

Öffentliche Vernissage
Freitag, 30. November 2018, 19 Uhr, Casinotheater Winterthur.

 

 

 

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